Rätikon – Tag 5

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Ein neuer Tag, ein neuer Aufstieg!

20.06.2013
-Tag 5-

GAA (Größter Anzunehmender Ausrutscher)

Der Anspruch wächst
Oh Mann, diesmal haben wir aber alle schlecht geschlafen. Möglicherweise haben uns die umfangreichen Ereignisse des Vortages DOCH mehr zugesetzt, als gestern noch gedacht. Das war aber auch ein Tag! Erstmal schön frühstücken, das weckt die Lebensgeister.

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Echte grüne Landschaft

Da wir heute nur eine kurze (aber knackige!) Etappe vor uns haben überlegen wir uns, eventuell im Zielgebiet der Tilisunahütte noch auf die Sulzfluh, sozusagen den Hausberg von Partnun, zu wandern. Mal sehen, denn ein bißchen ist heute die Luft raus, Körper und Geist, besonders aber der Körper würden ein bißchen Erholung nicht abgeneigt sein! Immerhin kraxeln wir ja schon 4 Tage in den Bergen herum, und unsere zarten Großstadtkörper sind das gar nicht gewohnt. Gut, mein Lauftraining gibt mir wahrscheinlich einen kreislauf-konditionellen Vorsprung, aber besonders bergauf werden ganz andere Muskelgruppen gefordert! Dazu noch der kräftige Armeinsatz- ich merke es jedenfalls auch. Und ausgerechnet JETZT gibt es gleich eine fette Steigung zum Auftakt! Was solls, so geht´s wenigstens aufwärts mit uns.

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be-baum-ter Geschicklichkeits-Steig

Zunächst durchschreiten wir ein wunderschön grünes Tal, welches uns eindrucksvoll vor Augen führt, was wir dieses Jahr NICHT gesehen haben: Bäume! Tatsächlich, bedingt durch unsere allgemeine Reisehöhe lustwandeln wir meistens hoch über den Baumwipfeln, so dass wir eben viele Felsen (und Schnee) bewundern dürfen aber nur wenig grüne Wiesen. Also genieße ich diesen Augenblick der Wanderung sehr, ist es doch eine willkommene Abwechslung zum felsigen und matschig-schnee-igen Einerlei über 1.700 Meter.

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Belohnung: traumhafte Sicht

Die Quittung für die schöne Umgebung folgt prompt, die Steigung ist nicht nur ausgesprochen senkrecht sondern vor allem sehr kletterig! Wurzeln, Steine, schmale Wegführung immer am Abhang- das ist echtes Abenteuerwandern! Und es klingt genauso anstrengend wie es ist– Spaß macht es dennoch!

Ein Stück des Weges vor uns ist eine Gruppe Wanderer, offensichtlich wie wir an der Lindauer Hütte aufgebrochen, ebenso offensichtlich von dem einen oder anderen erfahrenen Bergführer begleitet.

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Ätsch, überholt! 😉

Wir ziehen erhobenen Hauptes an der eben pausierenden Truppe vorbei, das motiviert doch glatt für den weiteren Weg! Aber irgendwie nimmt der Aufstieg kein Ende. Höher und höher schraubt sich der serpentinige extrem schmale Wanderweg, die Sonne brennt erbarmungslos, puh! Doch dann ist´s geschafft, der höchste Punkt des Tages ist erreicht! Wir haben soeben in Einerstundefünfzig 700 Höhenmeter bewältigt. So fühlen wir uns auch.




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Ääähh, nee, oder?



Angst!

Ich schaue den weitern Weg voran– und erstarre. Der weitere Weg ist ausgesetzt direkt an einem steilen Felsen, versehen mit einem Drahtseil zum Festhalten! Das ist ja nun so gar nicht meins, damit habe ich jetzt nicht gerechnet. Warum kann hier nicht einfach ein schöner, beschaulicher Wanderweg entlangführen? Warum muss ausgerechnet jetzt noch einmal so eine Herausforderung kommen? Ich habe wirklich Angst. Markus genießt diesen Moment für sich bestimmt, ihm liegen solche Wege und Gefühle. Mir allerdings nicht.
Der andere Thomas ist sehr still, ich habe keine Ahnung, wie er sich fühlt. Aber- zurück gibt´s hier nicht, der Weg zur Tilisuna-Hütte, unserem heutigen Tagesziel, führt unwiederbringlich hier entlang! Markus empfiehlt, sich vor der direkt nachfolgenden und momentan pausierenden Wandergruppe auf den Weg zu machen. Direkt vor uns haben gerade 2 Bergführer offensichtlich die Gangbarkeit des weiteren Weges erkundet.

Okay, vom Warten wird´s auch nicht besser, ich stelle mich meiner Angst. Wer zuviel nachdenkt kehrt um. Der Weg ist tatsächlich, wenn auch mit viel Achtsamkeit, bewanderbar, und um den nächsten Felsvorsprung herum erwartet uns zur allgemeinen Freude eine weiße und eiskalte Überraschung: Schnee! Hatten wir ja lange nicht. Allerdings haben wir verdammtes Glück: vor uns hat ein Bergführer mit Eishacke eine begehbare Rinne in die steile Schnee-Wand geschlagen, die uns die Querung enorm erleichtert! Ohne diese Rinne wär´s sehr schwierig geworden: rechter Hand eine Felswand, linker Hand gehts steil abwärts. Solche Begegnungen im genau passenden Moment sind es, die einen an kleine Wunder glauben lassen!

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Auf dem Bilkengrat

Nach dem Schneefeld geht es sich besser, und schon bald erreichen wir den Bilkengrat. Ab jetzt heißt es: runter! Dies hört sich leichter an als es umsetzbar ist, denn ab sofort intensiviert sich wieder die Schneemenge als unser All-Time-Handicap! Ein paar Murmeltiere wuseln die weißen Felder hinab als gäbe es nichts leichteres, und wir schwerfüßigen Menschen sind so unsicher auf diesem unberechenbaren Terrain. Wir rutschen also so vorsichtig wie nur irgend möglich die steile Schneewand hinab bis wir den ersten erkennbaren Ausläufer des Weges erreichen. Das unangenehme Bild des Grates setzt sich leider fort: immer wieder hat Schnee von oben den Weg am Hang verschüttet, so dass jetzt diese steilen Felder irgendwie überschritten werden müssen. Seitwärts zum Gefälle, welches im mindestens 45-Grad-Winkel gute 250 Meter nach unten bis zum Tilisunasee reicht arbeiten wir uns Schritt für Schritt voran, Markus als Fußabdrucksetzer, Thomas und ich folgend.

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Ich fühle mich sehr unwohl, zurecht…

Da passiert es: ich rutsche weg. In völliger Panik, wohl wissend, wie tief es unter mir ohne Halt abwärts geht, ramme ich weggleitend meine Wanderstöcke in den Schnee. Sie rutschen heraus und können mich nicht bremsen. Als nächstes werde ich den glitschigen schmalen Wanderpfad kreuzen, und dann bin ich verloren…
Gottseidank ist Markus vor mir: er bremst mich in Höhe des Weges! In der sprichwörtlichen letzten Sekunde habe ich Halt. Mein Herz rast, ich kann mich nicht aufrichten. Ich möchte nicht mehr weiter. Die Angst, die Panik hat mich voll im Griff. Ein paar Sekunden vergehen, sie fühlen sich wie Minuten an, dann kann ich wieder klar denken. Ich erhebe mich und meine Beine zittern noch immer. Schweigend gehe ich mit den beiden weiter, schon die nächsten grinsenden Schneegebiete im Blick. Hoffentlich hat das bald ein Ende, denke ich mir, ich möchte doch einfach nur wandern!

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Unangenehm schlüpfrige Wege

Die nächsten Schneefelder sind zwar genauso kniffelig, ich beherrsche meine Angst allerdings mittlerweile ganz gut und überschreite zunehmend sicherer Feld für Feld. Aber natürlich kommt noch was! Ich meine, wenn, dann richtig! Ein ungewöhnliches leicht scharrendes Geräusch lässt uns nach oben blicken, und Thomas erfasst völlig korrekt die sichtbare Tatsache: „Eine Lawine!“  Thomas und ich werfen uns im Liegestützmodus an den Hang, so dass uns, was auch immer da herunterkommen mag, nichts in den Abgrund reißen kann. Markus, etwas cooler als wir, macht einen Schritt zur Seite und schaut interessiert nach oben. Zu unserem und insbesondere zu Markus´ Glück kommen die Schieferstücke kurz über uns zum Halten, warum auch immer. Inschallah. Jetzt ist´s genug Nerventraining für heute, denke ich so leise vor mich hin. Ich werde Recht behalten.

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Ein schwer erkämpfter Anblick: Ziel!

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Land in Sicht!

Und dann, endlich, hinter einem kleinen Hügel: die Hütte! Noch nie auf dieser Reise habe ich mich so gefreut, ein Ziel zu erreichen. Die Hütte ist zwar zur Zeit eine lärmende Baustelle, was die Gemütlichkeit doch erheblich einschränkt, aber mir ist das in dem Moment egal: ich bin intakt und glücklich hier angekommen!
IMG_3634Nach einer kurzen Stärkung wird uns der hämmernde Baulärm (im Keller werden Wände weggerissen!) doch zu arg, und da erst früher Nachmittag ist wagen wir noch einen kleinen Spaziergang. Die Sulzfluh soll´s dann doch nicht sein, zu malträtiert sind unsere Gehwerkzeuge. Markus lassen wir auf einer Wiese zurück, ich glaube, er ist etwas erschöpft. Thomas und ich gehen´s allerdings auch ruhig an, wir wandern ein Stückchen Richtung Tilisunasee, welcher, 150 Meter unter der Hütte liegend, selbiger den Namen gab.

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Die freundliche Bergkröte


Auf dem Rückweg ziehen finstere Wolken auf, die Temperatur fällt um fast 20 Grad, wir beeilen uns etwas mit dem Heimweg. In der warmen Hütte angekommen fängt ein heftiger Regen an, der aber auf seiner Rückseite schon wieder von der Sonne vertrieben wird.

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Am Tilisuna-See

In der Folge sehen wir einen wunderschönen Regenbogen und ich genieße diesen Anblick. Das Abendbrot ist ein superleckeres Gulasch (gab´s schon mal etwas Nicht-Leckeres???) und in dieser Nacht schlafe ich deutlich besser.

Ein wahrlich heftiger und wertvoller Tag in Sachen Selbsterkenntnis und Grenzerfahrung ist vorbei.

IMG_3660Erkenntnis des Tages: Mentale Herausforderungen lassen einen immer wachsen. Auch, wenn man es im Moment nicht für möglich hält oder akzeptiert. Das kommt dann später…

Top des Tages: Meine Freestyle-Wanderung mit Thomas
Flop des Tages: Anblick der Stahlseilsicherung

Zurückgelegte Strecke: 6,7 Kilometer (inkl. „Spaziergang“)
Bewältigte Höhenmeter (aufwärts/abwärts): 1.050 Meter / 600 Meter (inkl. „Spaziergang“)

Zuerst die reguläre Tagesetappe:


Und noch Thomas & mein Spaziergang zum Tilisuna-See:

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Blick vom See zum Bilkengrat

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Spaziergangs-Impression 🙂















Und auf zur nebelverhangenen Wanderetappe am 6.Tag


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