17.07.2012
Der Berg ruft!
Ein bißchen müde aber mit deutlich weniger Schmerzen als ursprünglich angenommen stehen wir am nächsten Morgen zwischen 07:00 (Markus) und 07:30 (ich) auf. Warmduschen kann ich zumindest, allerdings erst nach Erwerb einer Duschmarke für 3,50 – Duschzeit : max.5 Minuten!
Markus hat das am Vorabend schon getestet und war super mit den 5 Minuten zurecht gekommen. Mir gelingt dies ebenfalls, anderenfalls hätte es auch eine eiskalte Überraschung gegeben.
Nach einer leckeren Achteurofünfzig(!)-Müslischale zum Frühstück (Markus lässt es sich mit gebratenen Eiern und Speck gutgehen) brechen wir OHNE 15 Kilo Gepäck, nur mit einem kleinen Grundversorgungsrucksack Richtung Birkkarspitze auf. Direkt hinter, richtiger: ÜBER dem Karwendelhaus beginnt der Aufstieg mit ein paar einigermaßen abenteuerlichen Kletterpartien durch die Lawinenschutzzone der Hütte.
Erstmals bewährt sich die stabile Wetterlage, zwar windig und a…kalt aber trocken! Das ist auch gut so, denn hier gibt es viel blanken Fels, notdürftig gesichert mit labberigen Stahlseilen, und dazu steil bergauf – holla! Regen hätte diese Strecke (für uns) unpassierbar glatt gestaltet.
Mitten im Felsenlabyrinth überholt uns ein junges englischsprachiges Pärchen, die genau wie wir Erstbesteiger der Birkkarspitze sind. (Markus wird später feststellen: „Die sind vielleicht das erste Mal auf der Birkkar, aber vorher waren sie auf’m Mont Blanc…“)
Das Schlauchkar ruft!
Im Anschluss an den ersten Felsaufstieg führt ein schotteriger sehr schmaler Wanderpfad zwischen Bergwiesen malerisch aufwärts. Er endet schlagartig und ohne sichtbare Weiterführung an einem großen Geröllfeld mit noch vorhandenem zu kreuzenden Schneegebiet: der Einstieg ins so genannte Schlauchkar!
Inzwischen hat Markus ein neues, lustiges Hobby entwickelt: ein Foto von jeder „Hier stürzte ein Bergfreund ab“-Tafel zu machen, von denen wir einige an den wegbegleitenden steilen und hohen Felswänden sehen. Und so überlegen wir uns, an welcher Stelle eine Tafel von uns beiden nicht so peinlich wäre. Zum Beispiel hier, direkt am Einstieg vom Schlauchkar abstürzen — Hallo? Geht gar nicht! Weiter oben– kein Problem. Aber hier schon? Neeeee.
Apropos Schlauchkar: Von hier an wird zunächst die Wegführung, später aber auch die Geh- und Kletterqualität deutlich anspruchsvoller. Zum wiederholten Mal sind wir froh, dass es heute bewölkt ist. Unter Sonne dürfte der „Weg“ durchs Schlauchkar eine wahre Hitzeschlacht werden, heute ist es wanderungstechnisch eher angenehm (oder wie auch immer man knapp 10° und scharfen Wind bezeichnen mag…). Weiter zunehmender frischer Wind weht uns um die Ohren, vom Sommer im Juli sind wir gerade 2.400 Höhenmeter entfernt. Ich bin froh, eine ohrenschützende Mütze auf zu haben! Und es wird immer kälter…
Außerdem heißt es ab jetzt möglichst aufmerksam Ausschau halten nach Steinen mit Roter-Punkt-Markierung. Denn an diesen markierten Stellen befinden sich begehbare Wegstellen. Blöd, wenn diese schlecht zu erkennen sind, denn abseits davon wird’s oft etwas rutschig.
Ende des Aufstiegs…
Holla, die Bergfee, die Kletterei (oder Kraxelei) gestaltet sich Meter für Meter mühsamer, die Steine zum Greifen werden immer knapper und vor allem lockerer, bis schließlich oberhalb des Schlauchkars, direkt unter dem Sattel, zumindest mir die Kletterpartie allmählich zu mulmig wird. Gut, lange Zeit habe ich meiner Angst die Stirn geboten, selbst wenn der „Weg“ über weite Strecken bis hierher eher ein gerölliger, unsicherer Aufstieg ist.
Bisher aber immer machbar. Nun kommt allerdings auch der Gedanke, durch dieses rutschige, unberechenbare Terrain wieder absteigen zu müssen hinzu und lässt mein Herz sinken. Markus, 5 luftige Höhenmeter über mir, hat auch sichtbare Schwierigkeiten, Haltepunkte für Hände und Füße zu finden. Seine Gefühlswelt entspricht nicht komplett meiner, deshalb möchte er noch ein Stück höher, sehen, ob die Steigung begehbarer wird.
Wird sie allerdings nicht, zumindest nicht soweit unser Auge reicht.
Der andere Berg ruft!
Und so schlage ich vor, den Gipfel wenn auch konditionell erreichbar vor Augen aber aus mangelnder Erfahrung einfach zu gefährlich entfernt, umzukehren, da ich doch eine tiefe Angst vor dem weiteren Aufstieg spüre. Markus sagt, er würde sich noch etwas weiter wagen, kann aber meine Gefühle und Bedenken sehr gut verstehen — und so kehren wir um.
Klar, war das nicht unser Ziel, den Gipfel „vor der Nase“ selbigen nicht zu erobern, andererseits gilt es zu bedenken, wie schnell Selbstüberschätzung am Steilhang durchaus unangenehm enden kann. Deshalb fühle mich dabei dennoch gut, schließlich habe ich es nicht leichtsinnig auf die Spitze (hihi :-)) getrieben, sondern, als es für mich wirklich zu gefährlich und unberechenbar erschien, auf meine Gefühle gehört.
Der Rückweg gestaltet sich dann einfacher als erwartet, der Weg nach unten ist verblüffenderweise oft erkennbarer als der nach oben. Wir beschließen kurzerhand, nicht komplett bis zum Karwendelhaus abzusteigen, einen „kleinen“ Gipfel wollen wir nämlich trotzdem erobern: das wegtechnisch besser erreichbare „Hochalmkreuz“ in 2.198 m Höhe.
Diese gänzlich ungeplante Besteigung ist zwar immer noch geröllig genug um eine gewisse Herausforderung darzustellen, bietet aber eindeutig mehr Genussmomente. So sehen wir gleich zu Beginn des Anstiegs 2 kapitale Berggemsen über uns, die an der Felswand herumhüpfen, als wäre es ebenerdig. Erstaunlich, WIR kriegen das nicht hin! Obwohl, immerhin hilft der Einsatz unserer Wanderstöcke, deren Unterstützung wir mehr und mehr zu schätzen lernen, den Aufstieg relativ zügig zu bewältigen.
Oben angelangt weht es uns fast von der Spitze, denn am Gipfelkreuz herrscht ein sehr stark böiger und unkalkulierbarer Wind. Man darf sich nicht gegen ihn stemmen, denn so schnell wie er kommt ist er auch wieder weg. Ein Augenblick der Unachtsamkeit kann dann ganz schnell im Gleichgewichtsverlust enden, auch wenn der Weg nicht so gefährlich wie im Schlauchkarsattel ist — Absturzpotential bietet er allemal!
Und, obwohl wir nicht ganz auf der Höhe der Birkkar-Spitze sind – die Momente der Einsamkeit am Hang, das Gefühl, unwichtig, klein und trotzdem gleichzeitig ein Bestandteil dieser kaum fassbaren Umgebung zu sein sind ein Erlebnis der ganz besonderen Art.
Nachlese
Abends treffen wir im Karwendelhaus auch das Erstbesteiger-Pärchen wieder. Die beiden haben sich tatsächlich bis nach ganz oben gewagt, und auf unsere Frage, wie es denn gewesen sei, antwortete der junge Mann lediglich: „Scary!“ Mehr brauchen und wollen wir gar nicht wissen… 😉
Am Ende des Tages haben wir ein auf jeden Fall tolles Abenteuer, eine doch recht krasse Grenzerfahrung und eine wunderbare Aussicht genossen. Markus sagt, er habe sich selten so lebendig gefühlt, wie in diesen unsicheren Momenten im Schlauchkarsattel oder auch in den Sturmböen des Hochalmkreuzes. Ein sehr schöner Gedanke.
Die zweite Nacht im Karwendelhaus verbringen wir diesmal in einer etwas „kleineren“ Umgebung, in einem Zimmer mit nur 4 weiteren WandergenossInnen. Dennoch will der Schlaf nicht kommen, vielleicht bin ich einfach noch zu aufgeregt…
Erkenntnis des Tages: Manches was unerreichbar scheint ist es (zunächst) durchaus auch.
Highlight des Tages: mich meiner Angst zu stellen und sie zu akzeptieren
Flop des Tages: der Preis für eine Schale mit Müsli. (Die Schale musste ich sogar wieder abgeben… ;-))
Zurückgelegte Wege:
-Länge: 7,39 km (nix!)
-Höhendifferenz aufwärts / abwärts: 992m / 974m (schon ordentlich! Wobei, irgendwo müssen 18 HM flöten gegangen sein, denn schließlich sind Start-/Endpunkt gleich… ;-))
Teil 1 der Wanderung: Aufwärts!
Teil 2: Abwärts! Aufwärts! Abwärts! (inkl. Hochalmkreuz)