19.06.2013
-Tag 4-
„Wer zuviel nachdenkt, kehrt um.“
Schesaplana: ahoi! 🙂
Wer hätte das gedacht? Also, ich nun auf gar keinen Fall. Und die anderen beiden wahrscheinlich auch nicht.
Zumindest Thomas nicht. Markus vielleicht, die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. Ich spüre ein tiefes, fast schon unbändiges Glücksgefühl. Wow, dass wir das schaffen würden, dass ICH das schaffen würde, gestern noch hätte ich daran gezweifelt — was sage ich: vor 3 Stunden hätte ich daran gezweifelt! Aber der Reihe nach…
Aufstehen. Nach dem Luxus der Schesaplana-Hütte geht´s hier wieder eher spartanisch zur Sache. Kaltes Wasser, immerhin fließend aus einem Hahn. Nun gehen wir ja nicht auf Hüttentour, um Luxushotel-Feeling zu genießen, ganz im Gegenteil! Ein bißchen Vor-Sich-Hin-Stinken gehört irgendwie dazu, zum wilden Wander-Lotterleben. Okay, Zähneputzen ist schon arg fordernd mit kaltem Wasser, aber wenn man das vom Vortag aus seinem Trinkbeutel nimmt, ist´s immerhin auf Schlafraum-Temperatur und damit deutlich über dem Flüssigeis aus der Wand.
Das Frühstück ist gewohnt gut, wir sind bereit für unsere heutige recht weite Etappe! Markus, immer noch besessen von der Idee, irgendwie auf die Schesaplana zu klettern, fragt die Hüttenwirtin (schon wieder eine Frau!) sicherheitshalber noch einmal nach der Möglichkeit. Tatsächlich räumt sie eine gewisse Chance ein, über den „Winterweg“ via die Schneemassen in Richtung des Gipfels vorstoßen zu können. „Wenn man es nicht probiert findet man es nicht heraus!“, sagt sie. Hui, das ist Markus´ Stichwort! Ja, er mobilisiert auch Thomas und mich, und — wir tun es! Wir ziehen wirklich los!
Gipfelsturm mit Gipfelsturm
Im Rucksack nur etwas Wasser und Notverpflegung + Jacke, den Rest lassen wir in der Totalphütte, machen wir uns auf den Weg. Anfangs steigt es sich ein bißchen wie über Treppen, ein vor uns Aufgestiegener hinterläßt deutlich sichtbare Spuren. Die kann man gut als Orientierung und vor allem als Trittfläche benutzen. Immer steiler geht der Anstieg nach oben, es gilt ja auch 600 HM auf einer Strecke von gut 2 Kilometern zu besteigen! Langsam wird´s unangenehm.
Ein scharfer, kalter Wind weht uns um die Ohren, eingepackt wie bei einer Nordpolreise arbeiten wir uns Meter für Meter voran. 2 junge Leute überholen uns, wir sind völlig erstaunt, wie die bei der Kälte mit Shorts und T-Shirt aufwärts steigen! Auf dem Rücken haben sie Kurz-Ski, mit denen sie von knapp unterm Gipfel bis mindestens zur Hütte fahren werden. Wir wollen höher! Meine Oberschenkel allerdings nicht, sie verkrampfen leicht und protestieren über die dauerhafte Misshandlung. Unangenehmerweise ist die Steigung ist mittlerweile ein fast senkrechter Hang, dafür liegt der Gipfel „nur noch“ ungefähr 50 Meter über uns. Die habens allerdings in sich.
Wir klettern extrem vorsichtig über die Spuren des Vor-Gängers, Markus checkt ein kleines Stück freien Felsvorsprungs auf Tritt-Tauglichkeit. Eins ist klar: der kleinste Fehltritt wäre jetzt auch der letzte, wir würden sehr tief fallen! Wir lassen uns Zeit und nutzen jede Gelegenheit, um kurz innezuhalten und vor allem dem Wind zu trotzen, der aufgrund seiner Stärke eine weitere Gefahrenquelle darstellt. Der Gipfelkamm ist in Sichtweite, nur noch wenige Meter. Markus passiert ihn als erstes und wird beinahe von dem plötzlich auftretenden Windböen über den Kamm zurückgeweht! Seine Warnung in unsere Richtung ist bei dem Sturm kaum zu hören, da wir aber dicht beieinander sind, geht´s.
Das Gipfelkreuz erreichen wir über nasses, teils vereistes Geröll, welches teilweise nur mit Klettern zu überwinden ist. Und dann ist er da, der oben beschriebene, große Moment: wir sind am Gipfelkreuz! Ganz oben! 2.960 Meter, keine Hilfsmittel außer unsere Wanderstöcke (Lebensretter!). Was für ein u-n-g-l-a-u-b-l-i-c-h-e-s Gefühl! Ich spüre die Euphorie darüber, trotz meiner tiefen Angst und einer kurzen Erschöpfungsphase während des Aufstiegs hier angekommen zu sein. Wäre der Wind nicht so stark, ich würde die Arme ausbreiten und vor Freude schreien! Das Armausbreiten würde in einem schlichten Vom-Gipel-Geweht enden, schreien ist dagegen unproblematisch, hört bei dem Sturm ´eh keiner.
Wir „verankern“ uns an den Halte-Stahlseilen des Kreuzes, Markus verewigt uns mit viel Mühe und klammen Fingern im Gipfelbuch, wir alle genießen einfach diesen Augenblick, diesen Triumph. Die Kälte und der enorme Wind spüren wir kaum. Später wird Markus feststellen, dass wir ganz schöne „Badass Motherfucker“ sind. Das, denke ich, trifft´s ganz gut. 😉
Hinab, hinauf, hinab, hinauf, hinab…
Leider müssen wir auch irgendwann und vor allem irgendwie wieder runter. Das haben wir bisher erfolgreich ignoriert. Besonders in Gipfelnähe ist es nicht weniger fordernd, nicht weniger gefährlich als der Aufstieg. Wir passieren die senkrechte Fels-Schnee-Stelle, die immer noch komplett unberechenbar zu betreten und festzuhalten ist. Markus ist vorbei, er hat´s einigermaßen gut hingekriegt. Mir rutscht das Herz in die Hosentasche. Ein kleiner Schritt für mich…
Dann ist auch diese Stelle bewältigt, ab jetzt wird das Gefälle geringer. Markus „slidet“ wieder auf seinen Wanderschuh-Sohlen ´gen Hütte, Thomas und ich lassen uns beim Abstieg etwas mehr Zeit. Das Gefühl dabei ist großartig! In der Hütte angekommen spendiert uns die Wirtin erstmal ein hochprozentiges „Gipfelwasser“, weil sie es absolut respektabel findet, dass wir es gewagt haben und uns bis ganz nach oben trauten. Als wir unser „Wasser“ auf ex trinken und uns danach kräftig schütteln, sagt ein Wandersmann, der am Tisch saß, „Wer zuviel nachdenkt kehrt um.“. Eine fast schon buddhistische Weisheit. Dem ist nichts hinzuzufügen.
Bedenkt man, was wir gerade geleistet haben, fehlt uns nun ein bißchen die Motivation, die eigentliche Tagesetappe anzugehen. Knapp 15 Kilometer Auf-Und-Ab liegen noch vor uns, puuuh! Also gut, Rucksäcke wieder eingepackt, und ab dafür! Zunächst bergab zur Lünerpfütze zurück – schade um die schönen Höhenmeter, die wir dafür nachher wieder hoch müssen (Zitat Markus)! Schneefelder wechseln sich mit tatsächlich gut gangbaren Wegpassagen ab, es schlaucht dennoch zunehmend, dieses konzentrierte Hoch-Runter-Wandern. Eine ordentlich brutzelnde Sonne sowie oftmals starke Windpassagen leisten ihren intensiven Beitrag, die Herausforderungen des Tages weiter zu maximieren.
An einem alten Zollhaus rasten wir und wollen am liebsten gar nicht mehr weiter, können wir doch schon den Öfapaß erkennen, den es zu überwandern gilt. Bergauf. Schnee. Anstrengend. Oben. Bergab. Schnee. In gewisser Weise auch anstrengend. Immerhin: wir können die Lindauer Hütte, unser Etappenziel, in schier unendlicher Entfernung schon erkennen!
Totaler Energieverlust!
Der Weg ins Tal und an die tiefste Stelle unserer ganzen Wanderung zieht sich eeeendlos dahin. Wir laufen und laufen und haben das Gefühl, der Hütte keinen Schritt näher zu kommen. Thomas fällt ein Stück zurück, wir warten. Als er uns erreicht ist er ganz blass und zittert, und sagt: „ich brauche jetzt irgendwie Energie“. Spricht´s und haut sich 3 Snickers ´rein! Wow, ein klassischer Hungerast. Den werde ich wohl auch irgendwann mal auf dem Weg zu meiner Marathonvorbereitung kennenlernen. Kohlenhydrate alle. Kein Strom mehr.
Passiert auf Wanderungen bestimmt eher selten. Gut, heute ist unser Pensum allerdings schon ziemlich fett, und gegessen haben wir ja nicht wirklich viel!
Thomas gehts wieder etwas besser, wir passieren eine kleine Rinderherde, die uns freudig begrüßt, und dann erreichen wir unser Ziel.
Neben der Tatsache des tiefst gelegenen Wanderziels handelt es sich bei der Lindauer Hütte ohne Frage um eine sehr touristische Einrichtung. Da dies allerdings auch unvorstellbar wundervolle Duschen mit einschließt ist uns das heute und ganz besonders jetzt einigermaßen egal. Das Abendbrot schmeckt uns heute noch viel besser als sonst, fragt mich aber bitte nicht, was es gab. Nach so einem Tag ist einem das völlig egal, Hauptsache Essen. 🙂 Das einzige, woran ich mich erinnere, ist der phantastische Germknödel danach, mit Vanille-Mohn-Sauce. Ein Gedicht aus Zucker!
Der Abend hier unten ist wunderbar mild, bei den vorherigen Hütten wurde es schnell empfindlich kalt. Wir nutzen die sommerliche Gelegenheit und spazieren durch den wunderschön angelegten Alp-Garten direkt neben dem Gebäude und sitzen anschließend noch bis es dunkel wird auf einen Apfelwein oder Bier, je nach persönlicher Vorliebe, zusammen. Ich kann trotz totaler Erschöpfung lange nicht einschlafen, zu aufwühlend war der heutige Tag für mich. Aber es stört mich nicht. Ich liege in meinem Schlafsack und lächle, denke an die Schesaplana und bin sehr, sehr glücklich.
Erkenntnis des Tages: Wenn man vor Glück mal schreien möchte sollte man es einfach mal tun!
Top des Tages: Geografisch UND mental: die Schesaplana!
Flop des Tages: Der lange Weg zur Lindauer Hütte
Zurückgelegte Strecke: 17 Kilometer (mit Bergbesteigung)
Bewältigte Höhenmeter (aufwärts/abwärts): 1.890 Meter (!!!) / 2.500 Meter (mit Bergbesteigung)
Die heutige Etappe gibts in 2 Teilen. Zunächst die Gipfeleroberung:
Es folgt die zweite Tagesaufgabe: