Mit spiritueller Literatur ist das ja immer so eine Sache. Entweder sie ist trendy-spirituell („Ursel, dein Chakra ist heute aber ausgesprochen dunkelrot!“) oder, fast noch schlimmer, eigentlich eher esoterisch ausgerichtet.
Überhaupt ist das oft etwas schwierig, die in der Realität deutlich vorhandene Unterscheidung zwischen esoterisch und spirituell dem klischeeverdorbenen Massenpublikum des westlichen Kulturkreises nahe zu bringen. (So wird beispielsweise die Astrologie trotz eindeutiger Zuordnung zur Esoterik gern fälschlicherweise als spirituell bezeichnet)
Und dann steht da ein ausgerechnet giftgrün-lila-gefärbtes Buch im Regal und möchte sich gern als „Lauf-zu-dir-selbst“-Buch präsentieren. Da ist Skepsis beim ernsthaft interessierten Leser durchaus angebracht! Denn die Optik verheißt nix Gutes. Aber, wer geht schon nach Äußerlichkeiten? Die inneren Werte zählen doch schließlich, nicht wahr?!?
Also: Buch gekauft. Wer ist eigentlich dieser „Sakyong Rinpoche Mipha„, der Autor? Recherchen sagen uns, dass er der Sohn von Chogyam Trungpa, Bestsellerautor und Begründer des tibetischen Buddhismus im Westen, ist. Na, da lassen wir uns doch mal vom Inhalt überraschen, oder? Die Referenzen sind jedenfalls schon mal erwartungstechnisch ernsthaft zu bewerten.
Zunächst gibt es im Vorwort ein paar warme Worte zu den Eigenerfahrungen des Autors in Sachen Meditation und Laufen. Das ist natürlich hilfreich, da man sich sonst vielleicht fragen würde, was der Kerl da eigentlich von einem will.
Was anschließend folgt ist im Grunde die Vertiefung des Vorwortes auf allen (vorstellbaren) Ebenen der beiden Kernthemen „Laufen und Meditation“. Das ganze wird aus verschiedenen Sichtweisen ausführlich dargelegt und angenehm gewürzt mit Autobiographischem, was die fernöstliche Ausrichtung des gesamten Themas greifbar und vor allem nachvollziehbar macht. Letzteres ist natürlich auch das Ansinnen des Rinpoche, und: ja, Offenheit und Interesse an sich selbst beim Leser vorausgesetzt, es funktioniert!
Er unterteilt sowohl laufen als auch meditieren, falls ernsthaft betrieben, in 4 grundlegende Entwicklungsstufen, die er jeweils mit Tieren (teilweise mythologisch) gleichsetzt: Tiger, Schneelöwe, Garuda und Drache. Darauf hier im Detail einzugehen würde zu weit führen. Für uns westliche Kulturkreisangehörige liest sich das möglicherweise etwas ungewohnt, allerdings liegt genau da unter anderem für mich der Reiz, nämlich gewohnte Dinge neu zu entdecken!
Ja, der Wille, sich einem solchen Thema auf sehr tibetische oder eben buddhistische Art zu nähern macht das Buch erst richtig lesenswert. Es enthält (gottseidank!) auch keine neunmalklugen Tipps zum Lauftraining (weshalb es alles andere als ein „klassisches“ Laufbuch ist) oder wie man sich mental zum Sieg trimmen kann, aber es ist dennoch ein wertvolles (Lauf-)Lesebuch mit vielen Einladungen, doch mal das Laufen und vor allem sich selbst (!) aus einer anderen, eher kontemplativen (des Buchautors Lieblingswort!), Perspektive zu betrachten.
Hilfreich ist es in jedem Falle, wenn man sich im Vorfeld der Lektüre zumindest ein bißchen mit der Meditationspraxis beschäftigt hat, denn es ist eben, wie eingangs beschrieben, kein Lifestyle-„Lauf-zu-dir-selbst!“-Buch, auch wenn es das Cover so suggeriert. Dies würde dem Inhalt definitiv Unrecht tun.
Fazit: Empfehlung für ambitionierte Läufer, die auch aus meditativen Gründen ihrem Sport frönen, sowie für angehende Buddhisten. Kurzweilig, gut anwendbar und mit hohem „Nochmal-Lese-Faktor“!
Namaste.